Von einem Behinderten, der auszog um Lehrer zu werden

Ein Vater hatte zwei Söhne, der
ältere war klug und gescheit, der
jüngere aber hatte dereinst einen
schweren Unfall, zog sich eine
Hirnverletzung und eine spastische
Halbseitenlähmung zu und
besuchte fortan nicht mehr das
Gymnasium, sondern eine Schule
für Körperbehinderte. Da diese
besondere Sonderschule im weit
entfernten Colonia lag, musste
der arme Knabe dort allein unter
fremden Menschen in einem
Heim leben. Doch er ließ sich
nicht schrecken und machte sein
Abitur.
Mit dem Abitur in der Tasche wollte
der jüngere Sohn nun etwas
Sinnvolleres als sein Bruder anfangen,
der schon geraume Zeit eine
leitende Position in einer Kaufhoffiliale
inne hatte. „Frisch auf“,
dachte er „die Behindertenszene
aufgemischt!“ und studierte Sonderpädagogik.
Mit viel Schweiß
legte er nach nur acht Semestern
seine erste Staatsprüfung ab. All
die Anstrengung hatte sich gelohnt.
Der Behinderte blickte zuversichtlich
in die Zukunft. „Zwei
Jahre Referendariat und dann bin
ich ein guter Sonderschullehrer,“
dachte er so bei sich.
Bald erfolgte dann auch sein Eintritt
in die so genannte berufliche Qualifizierungsphase.
Sicher würde das Referendariat
kein Zuckerschlecken sein.
Lieber Berater als Schraubenzähler
Von einem Behinderten, der auszog um Lehrer zu werden
„Das werden zwei harte Jahre“, rief
er. „Doch was sind schon zwei Jahre?“
Aber es kam härter, als er dachte.
Schon zu Beginn wurde ihm klar gemacht,
dass er mit seinem auffälligen
Gangbild in der LehrerInnenschaft nicht
erwünscht sei. Der Direktor der Schule
lung nicht angepasst. So musste ich
stundenlang Schrauben eintüten und
Schachteln falten. Es wurden immer
wieder Versuche gestartet, geeignete
Aufträge für mich zu finden. Leider
ohne Erfolg. Ich empfand das als lähmend
und sogar als Bestrafung, denn
ich war ja gezwungen, immerzu diese
eintönige Arbeit zu verrichten.
Im Rahmen einer Veranstaltung des Arbeitskreises
„Werkstätten für Behinderte“
hat mich eine junge Journalistin
interviewt und mich gefragt, wie
die Ausbildungsmöglichkeiten in den
Werkstätten seien. Ich habe ihr erzählt,
dass qualifizierende Weiterbildungen
und Seminare fehlten. Ohne solche
hätten die Behinderten aber wenig
Möglichkeiten, sich beruflich und persönlich
weiterzuentwickeln. Ein solches
Angebot verstand ich als Bestandteil einer
Rehabilitation, wie sie durch Werkstätten
erbracht werden soll.
Wenn es nach dem Wunsch meiner
Geschäftsleitung gegangen wäre, hätte
ich lieber nichts gesagt. Mein
Zitat wurde jedoch in einer
Zeitung der „Aktion
Mensch“ abgedruckt
und auch von der erwähnten
Geschäftsleitung
gelesen. Mittlerweile gibt es Seminare
für Kochen, Rückengymnastik,
Selbstverteidigung und PC-Bedienung.
Und etwas, was mich besonders freut:
Die Werkstatt bietet dieses Jahr ein Seminar
an mit dem Titel: „Wege aus der
Werkstatt!“ Einer der Referenten von
„Mensch zuerst“ bin ich.
Ich habe mich früh an Behindertenorganisationen
gewandt, weil ich in die
Welt hinaus wollte. Auf diese Weise
konnte ich das werden, was ich mir
erträumt habe: Referent für die Menschen
mit Behinderungen und ihre Belange
in Werkstätten.
Ich wurde oft gefragt, weshalb sich
nicht etwas ändert. Es liegt daran, das
grundsätzlich zu wenig Spielraum für
Selbstbestimmung da ist. Alles muss
laufen und finanziell machbar sein.
Auch die Gruppenleiter und andere
Angestellte können nicht so arbeiten,
wie sie es sich vorstellen.
Und dann kommt immer die Frage:
Wer ist schon selbstbestimmt? Doch
wohl keiner! Die Werkstätten sind
nach dem Gesetz Rehabilitationsträger.
Als solche haben sie
Selbstbestimmung
an- zubieten – nichts Superideales,
aber die
Suche nach Möglichkeiten für behinderte
Menschen, dass sie über sich in
ähnlicher Weise selbst verfügen können
wie nichtbehinderte auch. Mich
hat es immer zerrissen, zu wissen was
der rechtliche Auftrag ist und dass man
in der Werkstatt eine andere Auffassung
hatte.
Es ist an der Zeit die Werkstätten als
„Integrationsfirmen“ anzusehen; das
war schon immer mein Wunsch. Außerdem
fordere ich, dass man einen
Mindestlohn in den Werkstätten einführt.
für Körperbehinderte hielt ihm vor,
dass er für seine Kollegen nur eine
weitere Belastung wäre, da sie die
schwerstbehinderten Schüler heben
und tragen müssten, sich dadurch ihren
Rücken kaputt machten und nun
auch noch seine Tragedienste mit
übernehmen müssten. Außerdem
könne er in der Körperbehindertenschule
nicht professionell handeln,
weil er immer aus der eigenen Betroffenheit
heraus agiere.
Trotzdem biss er sich durch und hoffte,
dabei Hilfe bei den Vertrauensleuten
für Schwerbehinderte zu finden.
Aber auch die gaben ihm kaum Rückendeckung.
So suchte er Rat bei
Behinertenorganisationen. Er nahm
Kontakt auf zur Interessenvertretung
für selbstimmtes Leben in Deutschland
(ISL) und tat das auch in seiner
Ausbildungsschule kund. Dort
wollte man von diesen Aktivitäten
aber gar nichts wissen.
Er schrieb seine zweite Staatsarbeit
in Evangelischer Religionslehre,
seinem Schwerpunkt als Unterrichtsfach.
Obwohl sie methodisch-
didaktisch ausgefeilt war und
den geforderten Umfang hatte, erhielt
er von seinem Ausbilder eine
mangelhafte Benotung, Die zweite
Staatsprüfung ließ ihn die LeherInnenschaft
dann gar nicht erst bestehen.
Der Behinderte war langsam zermürbt
und kam ins Grübeln. Waren an einer
Sonderschule behinderte Schüler richtig,
behinderte Lehrer jedoch falsch
platziert? War er auch deshalb durchgefallen,
weil er sich mit der Behindertenselbsthilfe
beraten hatte?
Jedenfalls besuchte ihm der Fachleiter
für Evangelische Religionslehre am Ausbildungsseminar
vor seiner schulpraktischer
Prüfung in seiner Ausbildungsschule
und gab ihm Ratschläge, wie
er seine schriftliche Unterrichtsvorbereitung
für die Prüfungsstunde gestalten
soll, damit diese wenigstens ausreichend
bewertet würde. Weil der Behinderte
schon daheim immer seinem Vater
und seinem älteren Bruder gehorchen
musste, nahm er die Ratschläge
an. Die Prüfungskommission bewertete
dann diese Vorbereitung mit „ungenügend“,
weil nämlich genau die Teile
fehlten, die er nach dem Rat des neunmalklügeren
Fachleiters weglassen sollte.
Doch der jüngere behinderte Sohn resignierte
nicht. Er legte gegen die Prüfung
Widerspruch ein und erhielt tatsächlich
die Möglichkeit, innerhalb kürzester
Zeit die Prüfung zu wiederholen.
Er sollte sie aber nun an einer Schule
für Lernbehinderte ablegen, obwohl er
auf die so genannte Sondererziehung
und Rehabilitation Körperbehinderter
spezialisiert war. Der stressgeplagte Behinderte
wurde krank und vom Amtspsychiater
für sechs Monate dienstunfähig
geschrieben.
Doch auch diesmal rappelte er sich und
gesundete wieder. Nun konnte er geprüft
werden. Am ersten Prüfungstag,
an dem er eine Mathematikstunde
präsentierte, erhielt er ein „gut“.
Ausschlaggebend war hierbei die Wertung
einer Fachleiterin, die am zweiten
Prüfungstag jedoch krankheitsbedingt
fehlte. Und die zweite Prüfungsstunde
war dann auch „mangelhaft“. Ergebnis:
nicht bestanden…
Wurde der ihm hold gesinnten Fachleiterin
vielleicht deutlich nahe gelegt,
krank sein zu müssen?
Nach dem dazumal noch gültigen
Schwerbehindertengesetz hätte die
Sonderschule ihn als Lehrer kaum noch
loswerden können. Aber einem, der
der Prüfung nicht genügt, kann man
getrost von hinnen weisen.
Schlussendlich erhielt der jüngere
Sohn die Urkunde über die
Entlassung aus dem Vorbereitungsdienst.
So blieb er, was er
war – ein Behinderter!

Carsten Rensinghoff

Comments are closed.