Zwischen Februar und Mai diesen Jahres war das Bild „Tante Marianne“ von Gerhard Richter für einige Wochen in Berlin zu sehen. Das 120×130 cm große, in schwarz-weiß gehaltene Ölgemälde zeigt ein junges Mädchen, das an einem Wickeltisch steht und einen Säugling hält. Das Bild ist, für Richter typisch, eine extrem naturalistische Kopie einer fotografischen Vorlage, die allerdings verwischt und eigenartig unscharf erscheint. Das Bild zeigt Richters Tante, Marianne Schönfelder. Die zum Zeitpunkt des Entstehens der Fotografie 14-Jährige erkrankte einige Jahre später an Schizophrenie. Die fotographische Vorlage für Richters Gemälde entstand 1932. Mit 21 Jahren wurde seine Tante zwangssterilisiert und am 16. Februar 1945 im Sächsischen Krankenhaus Großschweidnitz ermordet. Sie wurde Opfer des nationalsozialistischen Kranken- und Behindertenmordes. Mit dem Wissen von der Biographie Marianne Schönfelders erhält das Kunstwerk eine verstörende Symbolkraft. Es markiert eine Leerstelle, schließlich ist bis heute der nationalsozialistische Kranken- und Behindertenmord ein Verbrechen für das es keine kollektiv geteilten Bilder gibt. Anders als die ikonisch gewordenen Bilder von den Leichenbergen in Dachau und Bergen-Belsen, anders als die Bilder der Gaskammern in Auschwitz, anders als die Bilder von Kleidern der in der Schlucht von Babi Jar erschossenen ukrainischen Juden gibt es keine kollektiven Bilder der NS-Verbrechen an Kranken und Behinderten. Die Namen der Kinderfachabteilungen Dösen, Brandenburg-Görden, Berlin-Wiesengrund, Sachsenberg, Ueckermünde und das bereits erwähnte Großschweidnitz, um nur einige in der ehemaligen DDR gelegene zu nennen, haben nur für einige wenige Expertinnen einen Beiklang, der an nationalsozialistische Verbrechen erinnert. Statt konkretem Wissen dominieren eher diffuse, angstbesetzte Bilder. Auch für den in der Oberlausitz geborenen, später in Dresden beheimateten Gerhard Richter. Ein Journalist schrieb etwas pathetisch vor einigen Jahren im Tagesspiegel: „Wirr im Kopf, war sie für den kleinen Neffen Gerd Richter ‚eine Angstfigur‘, ihre Spur verlor sich ihm im Unheimlichen. Fiel der Name, sei geweint worden, sie war der Mittelpunkt aller Traurigkeit. Dem Buben war mulmig ob der Drohung, ‚du endest wie Tante Marianne‘. In der Klapsmühle.“