Die Tätigkeit des Nichtstuns

Philologen leiten den Begriff ‚Arbeit’ aus dem althochdeutschen arabeit ab, was
soviel wie mühen oder plagen bedeutet. Nun hat sich seit den Zeiten des Althochdeutschen nicht nur die Orthographie des Wortes verändert. Im 21.
Jahrhundert bedeutet Arbeit nicht unbedingt Plage oder Mühe. Im Lexikon finden wir neben der althochdeutschen Übersetzung auch den Hinweis, dass Arbeit zum Zweck der Existenzsicherung und der Befriedigung von Einzelbedürfnissen ein
zielgerichtetes und bewusstes Handeln ist. Gleichzeitig bietetes auch einen wesentlichen Moment der Daseinserfüllung. Dazu darf gemeinhin die Existenzsicherung nicht mehr all zu sehr im Vordergrund stehen – also die Frage, wie viel man für eine Tätigkeit auf die Hand bekommt. Die Hand ist aber nun mal nicht nur zum Aufhalten und sich Essen in den Mund schieben da. Sie muss erst einmal etwas tun, um etwas zu haben, was sie sich dann in den Mund schieben kann. In den meisten Fällen ist das, was sie hat, im Verhältnis zu dem, was sie tut, nicht erwähnenswert, und so kommen wir wieder der ursprünglichen Bedeutung sehr nahe und Arbeit ist nicht nur mit wenig Lohn, sondern vor allem mit viel Schweiß und körperlichem oder geistigem Einsatz verbunden.

Solchen Einsatz kann ein Mensch mit einer Behinderung in dieser Weise selten erbringen. Er muss es auch nicht, denn es wird auch nicht von ihm verlangt- nicht vom Staat, nicht von seinem engeren Umfeld und nicht von den allgemeinen Werten. Er wird nicht mit vorwurfsvollen Blicken oder Kommentaren bedacht, weil er sich keine Arbeit sucht. Die öffentliche Meinung unterstellt ihm nicht, dass er ein Sozialschmarotzer ist, der sich vor dem Fernseherin seinem Rollstuhl auf der faulen Haut ausruht. Denn der Behinderte kann ja nicht anders. Er befindet sichin einer Art Schutzraum. Und die Gesellschaft füttert ihn und reicht ihm die Hand in Form von staatlicher Unterstützung. Der Behinderte wird in Ruhe gelassen. Er muss sich keine Gedanken um seine Existenz machen; er muss sich nicht plagen und mühen. Der Behinderte ist sicher in seinem Schutzraum, aber auch isoliert, denn Arbeit bedeutet Integration in die Gesellschaftund das bedeutet heutzutage Leistung zu erbringen und Anerkennung zu gewinnen. Das schafft eine Identität und weist einen Platz in der Gemeinschaft zu.

Mehr denn je wird der Einzelne über seine Arbeit definiert. Das sieht man zum Beispiel,wenn man sich in gewissen gesellschaftlichen Kreisen bewegt, und auf Partysgefragt wird, was man denn so mache. Es ist wichtig,womit man sich beschäftigt, womit man sein Geld verdient, zumindest ist es wichtig, solange man ‚normal’ erscheint. Behindertewerden auf Partys diese Fragen wahrscheinlich nicht zu hören bekommen. Man trautihnen keine wichtigen Jobs zu und verkneift sich gleich die Frage nach der Tätigkeit, um sie nicht zu verletzen. Der einzige Anknüpfungspunkt zwischen Arbeit und Behinderung ist für die Meisten die geschützte Werkstatt.

Sie entstanden, weil Arbeiten mit einer Behinderung tatsächlich einen oft erheblichen Mehraufwand erfordert. Ein Schonraum wurde geschaffen, von dem aus eine behutsame Integration erfolgen sollte. Dies gelingt in den wenigsten Fällen – das Gegenteil ist der Fall: Separation. Sie vermeidet Konfrontationen,Probleme und Konflikte mit den Leistungsanforderungen des Arbeitsmarktes und nichtbehinderten Kollegen. Gleichzeitig verhindert sie die wirkliche Teilhabe an der Arbeitswelt.

In einer Werkstatt für behinderte Menschen ist man unter sich. Man ist nichts Besonderes. Man wird nur mit ähnlich schützenswerten Individuen konfrontiert, beinahe Spiegelbilder seiner Selbst. Hier arbeitet man für sehr wenig Geld. Trotzdem spielt der Moment des Gebrauchtwerdens, des Nützlichseins wahrscheinlich eine wichtigere Rolle als der Verdienst. Man ist aussortiert und trotzdem noch verwertbar.
Durch Arbeit zeigt sich, was man kann, und man hat das Gefühl, etwas zu tun und nützlich zu sein. Auf Basis dieses Gefühls gründet sich die Legitimation von Behindertenwerkstätten. Ob dieses Gefühl für den Einzelnen auf Dauer trägt und ob es für das gesellschaftliche Bild von Behinderung förderlich ist, sei dahingestellt.
Heutzutage gibt es in der öffentlichen Diskussion viel Pro und Contra zu 1-Euro-Jobs. Sie sollen die Möglichkeit bieten, irgendwann wieder am normalen Arbeitsmarkt Teil zu nehmen. In den Behindertenwerkstätten gibt es diese Praxis schon seit 30 Jahren. Eine Möglichkeit, sich auf dem nicht-behinderten Arbeitsmarkt zu platzieren, sind sie allerdings nicht. Mitarbeiter der Werkstätten für behinderte Menschen haben den 1-Euro-Job erwerbslebenslänglich.
Aber jetzt werden wir über den sicheren Schutzraum hinaus blicken, einen Blick riskierenauf die Realität von arbeitenden Menschen mit Behinderungen außerhalb der Werkstätten. Die Hoffnung ist nicht unbegründet, dass man nach einer ordentlichen Ausbildung zum Beispiel an einer Universität, mit Hilfe der Agentur für Arbeit und deren Geld, als ‚Quotenbehinderter’ einen ganz ‚normalen’ Job findet. Der Arbeitgeber bekommt Zuschüsse, wenn er einen behinderten Menschen einstellt. Dieses nennt man Nachteilsausgleich. Die Firmen werden
für mögliche Nachteile zum Beispiel längere Produktionszeiten, spezielle Umbauten oder andere Aufwendungen, die sie auf Grund der Behinderung ihres Mitarbeiters eingehen, vom Staat entschädigt. Finanziert wird das aus Strafgeldern, die Unternehmen zahlen müssen, wenn sie eine Quote behinderter Arbeitnehmer nicht einhalten. Es gibt einige Arbeitsplätze, die auf Grund dieser Quotierung für behinderte Mitarbeiter zugänglich, mitunter sogar eigens geschaffen wurden. Vielleicht ist das eine Möglichkeit, am normalen Arbeitsleben Teil zu haben. Auf jeden Fall ist es ein Schritt in die Richtung, dass man sich als Behinderter auch bald auf Partys über seine Arbeit unterhalten wird.
Die meisten Behinderten brauchen Assistenz, auch und erst recht für die Arbeit. Im Sozialgesetzbuch IX wird der Rechtsanspruch darauf festgeschrieben. Wer personelle Hilfen benötigt, um eine Tätigkeit auszuüben, bekommt sie finanziert. Das kann Hilfen beim Lesen fürBlinde betreffen oder pflegerische Erfordernisse während der Arbeitszeit. Aber auch Arbeitnehmer mit geistigen Behinderungen und eher pädagogischen Hilfebedarf sollen derart unterstützt außerhalb der Werkstätten eine Chance haben.
Wären die Mittel, die für unterstützte Beschäftigung und für Werkstätten bereitgestellt werden, nicht eine wirksame Ressource, wesentlich mehr behinderte Arbeitnehmer als derzeit auf den ersten Arbeitsmarkt unterzubringen und sie trotzdem nicht ganz schutzlos sein zu lassen? Warum geschieht dann aber nichts Derartiges? Vielleicht deshalb, weil der Gedanke für die Masse der nichtbehinderten Arbeitssuchenden irritierend ist, wenn Krüppel zu ernsthaften Konkurrenten werden?
Behinderte werden gern als „Menschen mit besonderen Fähigkeiten“ bezeichnet. Es hängt nun aber immer noch sehr von der Leistung und der Willensstärke des Einzelnen ab, ob er die Möglichkeit bekommt, seine anderen Fähigkeiten auch unter Beweis zu stellen. Um überhaupt eine Arbeit zu bekommen, bedarf es meist enormer Vorarbeit, die hauptsächlich darin besteht, andere von sich und seiner Idee zu überzeugen. Dabei muss man nicht nur von sich als Person überzeugen, sondern auch seine Behinderung so darstellen, dass sie keinen deutlichen Nachteil darstellt. Das kann nervenaufreibender und anstrengender sein als die eigentliche Arbeit. Man muss sich verkaufen, wie jeder andere Jobbedürftige auch, aber
man muss nicht nur sich, sondern auch sein Handicap überzeugend und nicht wie einen Ballast auf dem eigenen Rücken oder dem des Arbeitgebers darstellen. Kurz, man muss von sichund seinem Handicap überzeugt sein, um überzeugen zu können. Das setzt zunächst einmalvoraus, dass einem Andere trotz der „besonderen Fähigkeit“ zutrauen, die Arbeit genauso zu bewältigen wie der Mitarbeiter, der keine „besondere Fähigkeit“ vorweisen kann.
An diesem Punkt kommen wir wieder zu der Ausgangsdefinition von Arbeit zurück, denn diese Überzeugungsarbeit kostet sehr viel Mühe und kann manchmal zu einer wirklichen Plage werden. Aber was tut man nicht alles, um auf der nächsten Party mitreden zu können.

Marie Gronwald

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