Noch immer bilden „Behinderung“ und „Heim“ ein offensichtlich nicht zu trennendes Begriffspaar. Zwar haben sich auch Hilfeformen herausgebildet, mit denen behinderte Menschen außerhalb eines Heimes und unabhängig von Angehörigen leben können, doch ist das Wissen um sie wenig verbreitet und ihre Finanzierung muss häufig erst eingeklagt werden. Wer einen höheren Hilfebedarf wegen mentaler Einschränkungen hat oder im Alter pflegebedürftig wird, kommt um die Anstalt erst recht nicht herum.
Heimbewohner werden als Bürger zweiter Klasse behandelt. Ihre Rechte sind eingeschränkt.
Ein Heim ist kein Ort der Individualität, sondern der Anpassung. Dienstplan, Arbeitsschutz, Hygiene und Hausordnung bestimmen den Alltag. Meist sind die Wohn- und Schlafräume für alle zugänglich. Oft lässt sich nicht einmal das Klo abschließen. Ein Heimbewohner hat wenig Einfluss auf die Gestaltung seines Wohnbereichs. Er kann auch nicht bestimmen, wie stark sein Kaffee ist und ob er Ruccola oder Feldsalat zum Abendessen nimmt. Wenn er an einem verregneten Sonntagmorgen länger im Bett bleiben will, gibt es Probleme. Und dass spontan ein Freund vorbeikommt und man sich des Nachts von der Tankstelle Wodka holt, ist undenkbar. Untersuchungen zeigen, dass, wer in Einrichtungen aufwächst, kaum ein Gefühl für seine Biografie hat. So besitzen z.B. Menschen mit einer geistigen Behinderung, die schon länger als 15 Jahre in einer Anstalt untergebracht sind, sehr selten Erinnerungsstücke wie alte Fotos oder Souvenirs.
Heim ist das Gegenteil von Heimat. Diese entsteht aus der Beziehung des Einzelnen zur Umgebung. Er wächst in ihr auf, wird von ihr geprägt und prägt sie. Sie ist Teil seiner Identität. In ihr entfaltet er seine Individualität. Hier ist er souverän, weil er sicher ist und sich auskennt. All das kann eine Anstalt nicht hinreichend erfüllen.
Wer in Heimen aufwächst und lebt, ist in besonderer Weise heimatlos. Nicht nur, dass er häufig die Orte wechseln muss – je nach dem, wohin er verlegt wird. Er hat auch weniger Heimat in sich selbst, kann nie richtig souverän werden, weil er gar nicht als Einzelwesen wahrgenommen wird. In der Seelenheilkunde wird das als Hospitalismus bezeichnet. Die Betroffenen haben u.a. Angstzustände, sind motorisch gestört und entwickeln Ticks. Das ist auch bei Langzeitinhaftierten, Folteropfern und Zootieren zu beobachten.
Doch auch der souveräne Mensch mit eigener Biografie wird heimatlos, wenn er in ein Heim muss. Unsere Alten zeigen es uns. Sie spielen dort als Personen keine Rolle mehr, nur noch als Objekte von pflegerischen Abläufen. Nicht einmal die Farbe ihrer Bettwäsche, in der sie rund um die Uhr liegen, können sie sich aussuchen.
Zum sozialpolitischen Erfolgsmodell wurde das Heim zu Beginn des Industriezeitalters. Hier wurde der Grund gelegt, der bis heute das moderne Gemeinwesen versucht sein lässt, soziale Probleme durch Internierung zu lösen.
Die Produktion erfolgte damals erstmalig in Fabriken, nicht mehr hausnah in kleinen Handwerksbetrieben. Die Familienverbände spielten eine geringere Rolle. Somit gab es plötzlich viel weniger Ressourcen für die Hilfe durch Angehörige. Gleichzeitig brachte das neue System viele Unpassende hervor. Der neue Bürger musste verwertbar funktionieren. Er musste zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten sein und dort bestimmte Handlungen ausführen. Er musste das Geld, das er dafür erhielt, in Nahrung für sich und seine Kinder umrechnen. Nicht nur Alte und Gebrechliche blieben da außen vor, sondern all die, die nicht in der Lage waren, nach der Uhr im Takt der Maschinen und Registrierkassen zu leben. In den Städten entstand eine gefährliche Masse an Elenden – Krüppel, Bettler, Gauner, Nutten.
Die Kirchen hatten Übung in der Armenfürsorge. Sie bauten Anstalten und sammelten die Elenden in ihnen. So hatten diese ein Dach über dem Kopf und eine warme Mahlzeit. Gleichzeitig waren sie ihrer Freiheit beraubt und ausgegrenzt. Wer es lernte, das erforderliche Maß an Disziplin und Fleiß aufzubieten, konnte zurück ins normale Leben. Die sich nicht selbst ankleiden oder waschen konnten oder deren Lernfähigkeit stark eingeschränkt war, hatten hingegen lebenslänglich.
Fast 200 Jahre später ist das immer noch so. Alternative Ansätze sind rar. Schweden hat es in den letzten 15 Jahren geschafft, ein Hilfesystem aufzubauen, das weitgehend ohne Heime auskommt. Wer Unterstützung benötigt, bekommt einen Betrag, mit dem er sich die Hilfe nach seinen Vorstellungen organisieren kann. Er kann sie bei ambulanten Diensten einkaufen oder auch selbst Leute einstellen. Ähnlich funktioniert es in anderen skandinavischen Ländern oder Holland.
Auch in Deutschland gibt es seit 2007 einen zaghaften Ansatz: Das persönliche Budget. Man ist berechtigt, sich die Gelder, die Heime oder Pflegedienste erhalten würden, direkt auszahlen zu lassen und die Hilfe in Eigenregie zu gestalten. Allerdings ist die Zahl der Budgetnehmer gering.
Das hat sehr viel damit zu tun, dass die Einrichtungsträger ihre vorrangige Stellung am Behilflichkeitsmarkt nicht verlieren wollen. Sie sind traditionell die Monopolisten der Behindertenhilfe. Ohne ihren Sachverstand und ihre flächendeckende Struktur ist ein breiter Wandel zu Ambulantisierung und individuell angepasster Unterstützung nicht möglich. Doch dieser Wandel entzöge ihnen die Einnahmen. Aber auch Kassen und Ämter müssten umdenken und -strukturieren. Das ist unbequem und bei der Knappheit der Mittel sogar gefährlich. Zudem ist der Gesetzgeber nicht bereit, ausreichende Information über das Budget und Unterstützung beim Verwalten dessen zu finanzieren.
Aber genau das wäre nötig, damit es mehr als nur ein kleiner Teil von Elitekrüppeln beansprucht. Nur wenn behinderte Bürger tatsächlich als Kunden auftreten, werden sich auch Angebote entwickeln, die sich an ihren Bedürfnissen orientieren.
Leitbilder gibt es – wie eingangs erwähnt – bereits: Die persönliche Assistenz z. B., bei der die behinderte Person bestimmt, wer bei ihr arbeitet, wann und wo die Arbeit stattfindet und was wie getan wird. Auf diese Art können selbst Leute mit sehr umfangreichen körperlichen Beeinträchtigungen in einer eigenen Wohnung leben. Assistenz ist auch bei geistigen Behinderungen ein gangbarer Weg zur Selbstbestimmung. Sie muss hier eine weiterreichende Unterstützung bieten, Vorschläge machen, motivieren, gelegentlich auch als Fürsprache und Interessenvertretung agieren. So kann ein Mensch mit einer geistigen Behinderung jenseits der bevormundenden Struktur einer Einrichtung leben und beheimatet sein bei sich selbst.