Eine maßgebliche Motivation für eine Zeitung zu arbeiten, bei der es noch nicht mal Geld zu verdienen gibt, ist, dass man überall eingeladen wird. Kostenlos die Buffetbuletten und Bulettenbuffets fressen, sich schön einen ansaufen und sich dann
über peinliche Veranstaltungen lustig machen und die Männer mit den schlecht sitzenden Anzügen verspotten.
Wir haben auf dem falschen Schiff angeheuert! Bei Mondkalb wird man maximal zu Tagen der offenen Tür in Behinderteneinrichtungen eingeladen und da gibt‘s bekanntermaßen nur dünnen Kaffee und steinharten Kuchen. Die meisten von uns haben sich damit abgefunden und schreiben einfach von zu Hause aus – keine Außentermine. Recherche? Nur noch am Telefon oder übers Netz. Da wir aber immer mal ein paar neue Fotos brauchen und es für den Teint auch nicht das Schlechteste ist, haben wir neulich dann doch mal das Haus verlassen. Gerbing und Plöger also ab zum Lokaltermin. Beim Tag der offenen Tür in den Berliner Werkstätten für Behinderte (BWB).
„…Sie wollen sich also über einen Platz hier informieren?“ Die BWB ist zumindestunter den Behindertenwerkstätten ein Großkonzern. Der Laden hat 1300 Mitarbeiter – Jahresumsatz 27 Mio. Also eine gute Gelegenheit mal die alten Feindbilder aufzufrischen. Ort des Geschehens: Betriebsteil Nord, direkt an der Putlitzbrücke. Eine Werkstatt! Siebzieger-Jahre-Bau, acht Etagen, eigene Kantine, 650 Mitarbeiter- das sind die, die fast nichts verdienen – und ca. 100 Betreuer – das sind die, die was wir dafür halten, schnell wieder ein. Vor dem Termin hatte Plöger noch Witze gemacht: „Nicht, dass die mich gleich da behalten.“ Gerbing: „Na, dann können wir so eine Walraffnummer machen.“ Die beiden erkennbaren Journalisten vor uns (fette Digitalkameras!) wurden freundlichst begrüßt und auch wir wurden sofort von einer netten Frau in Empfang genommen. Allerdings wurde Plöger gleich mal gefragt:
„…Sie wollen sich also über einen Platz hier informieren?“
Gerbing wurde die Frage nicht gestellt, als Normalo wurde er gleich mal als Betreuer eingeordnet. Danach wurde es aber eigentlich richtig cool. Wir hatten das Glück, eine Führung zu bekommen, und schoben uns mit eine ziemlich sympathischen und teilweise etwas gelangweilten Förderklasse durch die einzelnen
Etagen. Glück deshalb, weil wir einen Einblick bekommen konnten, dass Abhängigkeitsverhältnisse doch gar nicht so einseitig sind, wie wir manchmal
geneigt sind, sie uns vorzustellen
.„…und womit stanzen Sie?“
Wenn man genau hinsieht, merkt man nämlich, dass es oft gar nicht darum geht, die Behinderten bzw. die Mitarbeiter zu beschäftigen, sondern dass die Betreuer eigentlich oft mindestens genau so viel, wenn nicht sogar noch mehr Freude an diversen Handarbeiten oder ganz allgemein mit ihrer Arbeit haben. Gleich am Anfang des Rundganges entspann sich in der sechsten Etage, wo kopiert,
Broschüren gebunden und Blätter laminiert werden, ein Fachgespräch zwischen der Lehrerin der Förderklasse und der Betreuerin über verschiedene Möglichkeiten des Lochens von Papier. Was sind die Weiterentwicklungen im Bereich der Plastikkamm-
und Spiralbindung? Wir waren begeistert von der Begeisterung der beiden Fachleute
und deren Lamentieren übers Laminieren. Einige Räume weiter dann die Kunstabteilung der BWB. Riesige Skulpturen, großformatige Gemälde – nur auf Fotos, da sich das eigentliche Atelier an anderem Orte befindet – aber nichtsdestotrotz beeindruckend. Das Künstlerkollektiv war auch anwesend mit sichtbarer Freude am Zeichnen. Besonders begeistert aber: Der Betreuerkünstler.
Und mal ehrlich: die Bedingungen sind auch traumhaft. Ein eigenes Atelier, die Möglichkeit in einer großen Künstlergruppe tätig zu sein und dann auch noch davon leben zu können… außerhalb der anderen großen Schule, also der Leipziger Schule, können das in Deutschland nur wenige. Zu guter Letzt lernten wir auch noch den Macher der Betriebszeitung kennen. Auch ein Normalo, bzw. freier Journalist, der Bild, Text und Layout seiner eigenen Zeitung macht. Also mehr Möglichkeiten als Karl Kraus bei der Fackel sie hatte, denn die hatte ja nicht so viele Bilder. Die Behindertenwerkstatt bietet eben Chancen jenseits des ersten Arbeitsmarktes…
Gestern noch Autos geknackt und heute schon behindert
Geschützte Werkstätten sind oft ein Ziel von Kritik der emanzipatorischen Behindertenbewegung in ihren besseren Zeiten gewesen. Daran anknüpfen wollend, interessierte uns vor allem der Arbeitsalltag, Arbeitsbedingungen, Bezahlung und
die Möglichkeit der Selbstvertretung. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich in den letzten fünfzehn Jahren massiv verändert und damit auch die Werkstätten. Die Betreuer machen zum Teil, soweit man das von
außen beurteilen kann, gute Arbeit und bemühen sich offenbar ernsthaft, die Leute in Arbeitsverhältnisse außerhalb der Werkstätten zu bringen. Wie sie selbst eingestehen, mit mäßigem Erfolg: „Unter zwei Prozent.“ Es gibt eine Mitarbeitervertretung, den Werkstattrat, trotzdem ist die Bezahlung mies. Die Leute kriegen Grundsicherung und der Lohn wird ohnehin davon abgezogen. Da
zeigt sich bereits ein Ansatz für eine stattfindende Verschiebung. Während man in den 70er und 80er Jahren gegen die beschissene Bezahlung in den Werkstätten
und für eine Gleichstellung behinderter und nichtbehinderter Arbeit eintrat, ist die Gleichstellung längst erreicht. Die Tatsache, dass der Verdienst egal ist, weil er nur mit Zuschüssen von der Arbeitsagentur zum Leben reicht, hat längst Arbeitende
in Berufen erreicht, die nur eine geringe Qualifikation zur Vorraussetzung haben. Damit verschiebt sich aber auch langsam die Aufgabe von Werkstätten und die Bedeutung von Behinderung. Das führt, wie immer bei Verschiebungen
der Norm, auch zu Konflikten. Der Pressesprecher der BWB drückte es vorsichtiger aus: „Es ist schon so, dass wir zunehmend auch Leute vermittelt bekommen, die man vor ein oder zwei Jahrzehnten vielleicht noch als „schwer erziehbar“ (die Anführungszeichen spricht er mit) klassifiziert worden wären. Die regen sich dann total auf, wenn sie am Eingang das Schild sehen: Berliner Werkstätten für Behinderte. Denn behindert wollen die nicht sein. Die haben gestern vielleicht noch ein Auto geknackt und nun bekommen sie so ein Label, dass sie als Abwertung empfinden.“ Auch was die Arbeit angeht, merkt man die Verschiebung deutlich. Viele Leute machen bei der BWB Industriejobs für große Unternehmen. Klimaanlagenabdeckungen werden montiert und Teile von Autositzen verschraubt. Hier lebt die fordistische Warenproduktion fort. Deutsche Behinderte konkurrieren mit tschechischen Normalos. Das kann man als eine Aufwertung der Arbeit Behinderter sehen, man kann aber auch sagen, dass dies nur geht, weil Behinderte in Deutschland Löhne erhalten, die das viel niedrigere Lohnniveau in Osteuropa noch unterschreiten. Und trotzdem scheinen sich einige Leute dort durchaus mit ihrer Arbeit zu identifizieren. Wem soll man es verübeln in einer Gesellschaft, in der Behinderten das kapitalistische Glücksversprechen nur in der abgespeckten,
puritanischen Variante zuteil wird, als Anerkennung von gelungener Anpassung und begrenzter Teilhabe an der warenproduzierenden Arbeitsgesellschaft?
Wen soll man da noch kritisieren, wenn man nicht in wohlfeilen Anklagen gegen die
Verfasstheit der Gesellschaft verharren will? Das sind so Fragen – also schnell weiter und in die Druckabteilung. Hier werden in Kleinstauflagen T-Shirts für lokale Sportvereine und Schulen bedruckt, Visitenkarten und Broschüren produziert.
„…Verantwortung, Flexibilität, Qualität“
Martin* hat hier die Verantwortung. Er macht die Visitenkarten und andere Erzeugnisse druckfertig. Wenn was schief geht, erfolgt das Prozedere, wie
man es aus neueren Qualitätsmanagement-Handbüchern kennt. Brief an den QM-Beauftragten, Verhandlungen über die Kostenübernahme – das ganze Programm. Die Betreuerin nennt das Integration, denn die gäbe es nur, wenn die Mitarbeiter eben auch Verantwortung übernähmen. Ja, so kann man das auch sehen. Man kann es aber auch als eine Verfeinerung der Disziplinierungstechniken sehen, die mittlerweile in der öffentlichen Verwaltung nach dem selben Prinzip funktionieren, wie in einem x-beliebigen Betrieb oder in einer geschützten Werkstatt. Die Aushänge am schwarzen Brett sprechen eine ähnliche Sprache. Anlässlich des Streiks der Verkehrsbetriebe wird darauf hingewiesen, dass das kein Grund für das Fernbleiben von der Arbeit ist. Der Personalchef betont, dass die „Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sehr große Flexibilität“ bei Streiks in der
Vergangenheit gezeigt hätten und äußert die Hoffnung, dass auch dieser „Streik von den Kolleginnen und Kollegen ebenso wie von unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gut gemeistert werden wird.“
Bleibt als Fazit, dass es Gleichstellung ist, wenn die Verhältnisse überall gleich beschissen sind. Mit dieser Erkenntnis haben wir dann noch einen Kaffee in der Kantine getrunken. Ach, der war gar nicht schlecht. Beeindruckend hier auch die
subtile Gesundheitspolitik: Die Tür zum Raucherraum ist verschlossen. Falls überhaupt jemand in den kahlen Kasten gehen möchte.
Eine unserer vollkritischen Fragen, wer denn den Gewinn des Ladens einstreicht, haben wir ganz vergessen zu fragen. Wir waren zu sehr vom Anzug des Pressesprechers beeindruckt. Der saß nämlich richtig gut. Der geschützten Werkstatt konnten wir dann aber doch noch etwas Positives abgewinnen: Hier gibt es wenigstens einen Stundenlohn von einem Euro in der Stunde, wogegen wir bei Mondkalb völlig leer ausgehen.
*Name von der Redaktion geändert