Kein richtiges Leben im falschen

Irgendwann will jedermann
raus aus seiner Haut.
Irgendwann denkt er dran, wenn auch nicht laut.
(Klaus Renft Combo, „Als ich wie ein Vogel war“)

Millionen Menschen haben sich angemeldet. Haben sich einen Körper gegeben, haben sich eine neues Gesicht gegeben und Gedanken darüber gemacht, wie sie zukünftig heißen möchten. Second Life boomt. Second Life – oder kurz: SL – ist die 3D-Simulation einer virtuellen Welt im Internet. Diese wird seit 1999 von der Firma Linden Lab in San Francisco entwickelt und ist seit 2003 für jeden verfügbar. Das System hat mittlerweile über fünf Millionen registrierte Benutzer weltweit, von denen rund um die Uhr durchschnittlich etwa fünfzehn- bis sechsunddreißigtausend online sind. Will man selbst Teil der SL-Gemeinde werden, heißt es erst einmal registrieren und Software downloaden. Anschließend gibt man sich einen neuen Namen und feiert de facto Geburtstag. Willkommen in der schönen neuen Welt! Sie befinden sich auf einer Insel und können Ihren eigenen Avatar (ihren virtuellen Körper) gestalten. Nur Mut! Ihre Problemzonen wie Hintern, picklige Haut oder schiefe Zähne – in der unendlichen Weite des virtuellen Raums müssen Sie sich damit nicht herumplagen. Geschlecht, Rumpf, Kopf, Augen, Haare und freilich auch die Haut, all das sind veränderbare Köperteile und -eigenschaften, bei denen es unzählige Einzeloptionen gibt. Ein Traum für jeden, der mit seinem Aussehen unzufrieden ist.
Eine Welt ohne Makel, ist die nicht auch eine Welt ohne Probleme?

Früher war das zweite Leben noch dem Paradies vorbehalten. Menschen haben ihre Sehnsüchte in den Himmel projiziert, nicht auf den Bildschirm. Ob im Internet oder im Diesseits: niemand ist mehr real, alle sind künstlich – Schwätzer, Spießer, Hologramme. Gefühle werden nur noch chiffriert preisgegeben. Ausgenommen die positiven: Lachen ist erlaubt. Besser noch, Lachen ist erwünscht! – Warum lachen Sie denn nicht? In der Erzählung „Mein trauriges Gesicht“ von Heinrich Böll wird ein Mann deshalb verhaftet:

„Es gibt das Gesetz, das Sie glücklich zu sein haben.“
Lachen Sie jetzt. Aber dalli.
Adorno sagt, es gibt kein richtiges Leben im falschen. Und was ist mit dem Körper? Gibt es kein richtiges Leben im falschen Körper?

Wer kennt das nicht: Den Wunsch einmal jemand anderes zu sein. Nicht immer mit den eigenen Beschränkungen leben zu müssen. Einfach so den eigenen Körper verlassen und alles tun und lassen zu können, was man gerade möchte. Jeder Behinderte hat wohl diesen Widerspruch erfahren müssen, zwischen den eigenen Wünschen und Ansprüchen auf der einen und der harten Wirklichkeit auf der anderen Seite. Und so ganz wird ihn mancher auch niemals loswerden.
Es bleibt wohl nichts anderes übrig als der Realität ins Auge zu blicken und sich selbst zu akzeptieren. Ein notwendiger aber schwieriger Weg, der niemandem erspart bleibt. Wie viel einfacher wäre es da, könnte man einfach raus aus seiner Haut, den Körper verlassen, der einen einengt und behindert. Das Paradies auf Erden. Nicht erst als ein Versprechen nach dem Tod. Der Wunsch nach Transzendenz bleibt.
Die Apologeten einer leidfreien Gesellschaft und die Verteidiger eugenischer Maßnahmen dürften sich jedenfalls freuen ob dieser sterilen zweiten Welt, in der jeder nach Lust und Laune den eigenen Körper formen darf und damit die auf den Lebensweg gegebenen Nachteile ausbügeln. Ein Dicker wird dünn, ein Kleiner groß und jemand, der im Rollstuhl sitzt, kann laufen und muss sich nicht mehr über Stufen und Schwellen ärgern.
Ist die zweite Welt also eine „bessere“, eine in der es Krankheit und Behinderung nicht mehr gibt und alle Menschen glücklich leben können? Forscher haben festgestellt, dass die virtuellen Menschen viel ungezwungener sind als ihre realen Pendants. Es kommt häufiger zu körperlichen Berührungen und es wird beim Aufeinandertreffen zweier Avatare weniger Abstand gehalten als in der Welt vor dem Bildschirm. Es gibt Prostituierte und Bordelle, Striplokale und Sex-Shops – Cyber-Sex an jeder Ecke. Und alle sehen verdammt gut und begehrenswert aus, niemand muss im Rollstuhl sitzen oder sich sonst wie als Behinderter durch die virtuelle Welt schlagen.
Aber es soll doch einige geben, die es einfach nicht lassen können und die Utopie einer zweiten perfekten Welt durch ihr Äußeres stören. So findet sich in einem SL-Internetforum tatsächlich folgender Eintrag: „Habe auch schon zwei hässliche Avatars gesehen. Mit denen hatte ich mich dann auch mal unterhalten…“

Jan Plöger

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