Krüppel aus dem Sack

Man könnte auch von Apartheid reden.
Die Öffentlichkeit ist bis in den letzten Winkel durchsexualisiert. Viele der Plakate im heutigen Stadtbild, hätten vor 50 Jahren einen Großeinsatz der Polizei provoziert, gar Unruhen in der Bevölkerung hervorgerufen. „Sex ist wichtig, Sex ist das Größte“, ist die Botschaft, die überall und immer zu hören ist. Und unsere Hormone lassen uns dran glauben. Gleichzeitig schreien all diese Plakate und Clips: „Du nicht!“ Auf ihnen sind jugendliche makellose Körper zu sehen. Solche Leute haben Sex. Leute mit Skoliosen, Spasmen oder fehlenden Gliedmaßen haben keinen.
Dieses „Du nicht!“ beginnt schon im Vorfeld. Cliquen, denen Schüler im Rollstuhl angehören, sind selten. Einfach nur in Shopping Malls rumzuhängen, zu qualmen und zu gucken, wie man an Bier rankommt, mag cool sein, aber wenn du gehbehindert bist, blind oder Autist, geht das nicht. Wenn du überhaupt mal rauskommst, dann zum therapeutischen Reiten, Basteln oder Wandern.
Ein paar Jahre später dann ruft ein Kumpel an: „Ey, meine Alten sind verreist. Ich hab sturmfrei. Willst du heute Abend nicht herkommen und mit Party machen?“ Geil! Aber für dich kann es schon daran scheitern, dass der U-Bahnhof keinen Aufzug hat. Hinzu kommt das Problem, dass kaum eine Wohnung ohne Treppen zu erreichen ist. Die kräftigsten und hilfsbereitesten Gäste mögen es noch schaffen, dich samt Gefährt nach oben zu schleppen. Aber wie die drei steilen Treppen im Hinterhaus wieder nach unten gelangen, wenn in der Frühe alle vollgeknallt sind? Doch selbst wenn du dich all diesen Fährnissen und Unwägbarkeiten mutig stellst, wirst du nicht belohnt. Jasmin wird von Dennis nach Hause gebracht, weil dieser sich davon verspricht, baldigst mit ihr im Paradiese zu sein. Dich begleitet Marcus, weil er ein soziales Gewissen hat. Vielleicht ist er fromm und erhofft sich davon eine Erhöhung seines Guthabens im Himmel.
Mir war ja die Gnade beschieden, in einer Zeit jung zu sein, in der man an die sexuelle Revolution glaubte. Es gab Leute – und ich zählte mich zu ihnen -, die stilisierten jeden Akt gleich zu einem Akt der Befreiung. Sicher war da eine Menge Oralsex dabei. Das heißt, man diskutierte und reflektierte sich zum Orgasmus (wahrscheinlich kommt daher der befremdliche Allgemeinplatz, Sex fände in der Hauptsache im Kopf statt). Trotzdem die Linken hatten tatsächlich auch eine Menge Freude miteinander. So wurde alles Mögliche befreit – die weibliche Lust, die gleichgeschlechtliche Liebe und der Orgasmus an sich. Es gab sogar Bestrebungen, Sex mit Kindern und Sex mit Tieren szenig zu machen und einen revolutionären Sinnzusammenhang zu verleihen. Die Apartheid geriet aber nicht ins Visier der Befreier.
Ich hatte also mit meinen fehlenden Muskeln und meinen geschwollenen Füßen deutlich weniger Sex als meine nichtbehinderten Freunde – und das, obwohl sie mich zu jeder Fete (so hießen die Parties damals), und zu jeder Aktion mitnahmen. Bisher hatte ich keinen Sex, weil ich es nicht wagte, Mädchen anzusprechen, ob sie Lust hätten auf Hautkontakt und Zärtlichkeiten. Nun war ich so stark und frei, zu fragen. Sex hatte ich trotzdem nicht, denn sie hatten das Bewusstsein, als Frau endlich auch einmal „Nein“ zu sagen. Ich lernte viele Frauen kennen. Mit meinen Freunden wollten sie ins Bett oder gar eine Beziehung haben. Mit mir wollten sie nur reden. Meistens sprachen wir über die Probleme, die sie mit meinen Freunden hatten.
Sex wird längst nicht mehr für revolutionär gehalten. Es scheint vielmehr zu gelten , dass die herrschenden Verhältnisse umso sicherer sind, umso mehr Spaß der Einzelne haben kann. Behinderte sind davon weiterhin deutlich ausgeschlossen. Doch die können auch nicht gefährlich werden.
Ganz so hoffnungslos ist die Lage aber auch nicht. Da gibt es z.B. Leute, die stehen auf fehlende Gliedmaßen oder überhaupt auf körperliche Fehlbildungen. Wie apart!

P.R. Iapos

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