Manche davon sogar im Schlaf, wie der folgende überaus sonderbare U-Bahn-Traum*, aus dem ich kürzlich mit großer Begeisterung erwachte … Stell Dir vor, lieber Leser, Du sitzt in der U-Bahn. Dein Blick geht wahlweise schräg nach oben oder schräg nach unten. Die U-Bahn macht leise: tschtschtsch …
Irgendwo flötet ein Handy: pidüdellüdü! Eine Stimme ertönt: „Mahmud? … Ah. …. Güsüm. … Kabülüslü hagimatü kuschmin Sozialamt. … Ah. … Kanüwüslü pakti Wohnberechtigungsschein …. Ah. Güsüm. …“ Eine Stimme aus dem Off erhebt sich gelangweilt darüber: „Nächster Halt: Alexanderplatz. Übergang zu den Linien U2, U8, zu Fernverkehr, Tram, Bus und einem Haufen S-Bahnen. Ausstieg: rechts.“
Die Bremsen quietschen: iiiiiiih. Die Türen öffnen sich: schschscht. Herein tritt ein langhaariger junger Mann mit Gitarre und Greenpeace-Anstecker. Du hast natürlich nicht wirklich hingesehen, aber Du hast kurz eine Saite anklingen hören und ziehst ängstlich den Kopf ein. Die Türen schließen sich, und schon erklingt das erwartete deprimierende Lied:
„Alle Vöglein sind schon tot,
alle Vöglein, alle –
Amsel, Drossel, Schwa-han und Huhn.
Auch das hat bestimmt
mit Umweltsünden zu tun …“
Der Gitarrist ist fertig. Ein paar Gutmenschen klatschen. Hier und da klimpert Kupfergeld. Schon ertönt wieder die Stimme aus dem Off: „Nächster Halt: Jannowitzbrücke. Übergang zu … ach, leckt mich doch!“ Wieder das Türöffnen: schschscht. Der Gitarrist schlurft so deprimiert davon, wie er kam. Nun aber hörst Du eine Tüte mit Flaschen gegen die Tür knallen, riechst Alkoholdunst. Tür wieder zu. Und eine neue Stimme erhebt sich … „Meine sehr verehrten Damen und Herren, entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie hier auf Ihrem Weg zur Arbeit stören muss! Mein Name ist Robert, aber sie können ruhig Robi zu mir sagen. Und der ältere Herr mit der Schnapsflasche, der mit mir hier eingestiegen ist, heißt Horst. Horst ist, wie man unschwer am schwankenden Gang und den fauligen Zähnen erkennen kann, obdachloser Alkoholiker. Horst, zeig doch bitte den Herrschaften mal Deine fauligen Zähne! … Ja, danke, das reicht! Horst hat bis vor zwei Monaten regelmäßig auf dieser Linie die Obdachlosenzeitung ‚Die Stütze’ verkauft. Das hatte für Horst und für Sie gewisse Nachteile. Für Horst bedeutete es, sich mindestens drei bis vier Stunden am Tag mühsam unterhalb seiner geliebten 3-Promille-Marke zu halten. Für Sie bedeutete es, seine fauligen Zähne nicht nur sehen zu müssen, sondern auch seinen geradezu höllischen Odem zu riechen, wenn er sich über Sie beugte. Horst? Kannst Du bitte mal kurz ausatmen?! … Buaaah! Das reicht, Horst, danke! Ich habe gesagt, es reicht! … Wo war ich? Genau. Also, wenn Horst hier früher einstieg, um seine Obdachlosenzeitung zu verkaufen, hatte das für alle Beteiligten nur Nachteile. Unnötig zu sagen, dass Horst keinen nennenswerten Umsatz erzielte. Was wiederum dazu führte, dass er gegen Ende seiner Schicht oft übellaunig wurde, unflätigste Beschimpfungen ausstieß und manchmal sogar seinen Hosenstall öffnete, um sein Gemächt heraushängen zu lassen … Nein, Horst! Das war jetzt keine Aufforderung! Reiß Dich zusammen! … Wer das schon einmal erleben musste, wird bestätigen können, dass es sich hierbei um einen terroristischen Anschlag auf sämtliche Sinne handelt, von dem mancher islamistische Attentäter noch was lernen könnte. Schwamm drüber. Diese Zeiten sind vorbei. Wie Sie sehen können, ist unser Horst inzwischen dauerhaft auf stabilen 4,0 Promille eingepegelt. Das macht ihn im Sinne des Gemeinwohls ausgeglichen und meist ein wenig schläfrig. Gell, Horst? Jaaaa … Womit wir zu meiner Person kommen. Ich bin arbeitsloser Sozialarbeiter und habe auf 1-Euro-Basis die Einzelfallbetreuung von Horst übernommen. Dieses neue Projekt nennt sich ‚Einer für Einen, alle für Deutschland’ und ist eine gemeinsame Initiative der Agentur für Arbeit und des Vereins ‚DadU – Dreck aus der U-Bahn e.V.’. Es funktioniert nach der Philosophie der ‚akzeptierenden Sozialarbeit’. Will sagen: Die Gemeinschaft akzeptiert Horsts Selbsteinschätzung als nicht mehr einzugliederndes asoziales Subjekt, das nur in stark alkoholisch sediertem Zustand einigermaßen erträglich ist, und bekennt sich gleichzeitig zur Fürsorgepflicht. Deshalb stehe nun ich hier, um Ihnen die Obdachlosenzeitung ‚Die Stütze’ zu verkaufen. Dies steigert, wie wir bereits feststellen konnten, nicht nur Horsts Umsatz beträchtlich, sondern verbessert auch seinen Gesundheitszustand und hebt seine allgemeine Lebensqualität. Wenn Sie sich Horsts Flasche mal angucken wollen … Halt doch mal hoch Horst! Hoooorst! Ja, danke. … Dies ist, wie Sie vielleicht erkennen, ein einwandfreier LIDL-Jägermeister-Verschnitt und nicht mehr dieses sonderbare Gemisch aus Eigendestillat, Bier und Domestos, das Sie Horst hier früher oft wieder ausbrechen sahen. Somit hat sich die allgemeine Situation auf dieser Linie nicht nur für Sie, sondern auch für Horst verbessert. Damit sich auch für mein Leben Vorteile ergeben, war es allerdings nötig, den Preis der Obdachlosenzeitung ‚Die Stütze’ ein wenig anzuheben. Sie kostet nun glatte fünf Euro, wovon 1 Euro an Horst geht, 1 Euro an die Redaktion, 1 Euro an mich und 2 Euro an den privaten Arbeitsvermittler, der mich im Auftrag des Job-Centers hierher vermittelt hat. Wir denken allerdings, dass sich die Kosten mittelfristig wieder auf 4 Euro senken lassen, indem wir auf die Redaktion der Obdachlosenzeitung ‚Die Stütze’ verzichten und stattdessen kleine Ablass-Zettel zum Verkauf anbieten. Sie müssten sich dann auch nicht mehr schlecht fühlen, weil Sie die ungelesene Zeitung auf dem nächsten U-Bahnhof wieder entsorgen. Auf lange Sicht ist weiterhin geplant, auch Horst zu Hause zu lassen, wo immer das gerade sein mag. Sie hätten dann nur noch mit mir zu tun. Aber momentan brauchen wir Horst, wie Sie verstehen werden, noch als Drohpotential. Kannst Du bitte noch mal ausatmen, Horst?! … Ja, danke. Das genügt. … Wenn ich Sie nun alle bitten dürfte, mir fünf Euro auszuhändigen? Die Zeitung müssen Sie natürlich nicht nehmen, wenn Sie nicht wollen. … Ja, danke. Danke. Danke. Sie da hinten auch, bitte! Ach, Sie wollen nicht? Sind sie sicher? … Horst, könntest Du für die Herrschaften im hinteren Bereich bitte mal Deinen Reißverschluss … Oh mein Gott! … Ja, zusätzliche Spenden werden natürlich auch genommen. Die kommen direkt unserem Projekt ‚Einer für Einen, alle für Deutschland’ zugute. Waren das jetzt alle? Wirklich? … Dann bedanke ich mich hiermit für Ihre Mitarbeit und wünsche Ihnen noch eine störungsfreie Weiterfahrt! Bis zum nächsten Mal, Ihr Robi!“
Die beiden steigen aus. Die U-Bahn fährt weiter, in eine neue, saubere Zukunft hinein. Und man selber sitzt verwirrt in seinem Bett und fragt sich, ob es nicht besser wäre, diese Idee mit einer Bewerbung für den Thinktank des Arbeitsministeriums zu Geld zu machen, statt eines Tages selber Opfer einer anderen, ähnlich tollen Idee zu werden. Jedenfalls ging es mir so.
* Beliebtes Unterschichtenverkehrsmittel in Großstädten, dem der berühmte BILD-Lyriker Franz-Josef Wagner kürzlich folgendes Prosa-Poem widmete: „In der U-Bahn riecht es nach abgestandenem Leben. Meine Tante würde ohnmächtig werden. Ich stelle mir vor, wie ich blutüberströmt zu der Notrufsäule krieche. Unter der Erde Berlins herrscht ein anderes Leben. Es ist nicht mein Leben.“ (leicht gekürzt)