Infantile Cerebralparese oder: Warum ich so besonders besonders bin

Ich werde nicht oft daran erinnert, dass ich anders laufe als die meisten. Es sei denn, meine Großmutter redet über meine berufliche Zukunft: „Also normalerweise hätt ick ja jesacht, sie soll Schauspielerin wern. Aber mit dem Bumsbeen…“

Oder irgendwelche Männer wittern ihre Chance, wenn ich von der Tanzfläche aufs Klo stolpere, weil sie mich für sternhagelvoll halten: „Mädchen, brauchste Hilfe? Sollick mitkommen?“ Selbst der Kollege Jakob Hein, seines Zeichens Arzt, meinte letztens äußerst professionell: „Samma, wie loofst du denn!?“
„Cerebrale Parese links“, sagte ich. Und er guckte.

Die sogenannte infantile Cerebralparese (zu deutsch: kindliche unvollständige Gehirnlähmung) ist eine der häufigsten Körperbehinderungen überhaupt. Oft ist eine unzureichende Sauerstoffzufuhr, während oder kurz nach der Geburt die Ursache. Genaueres lässt sich oft nicht exakt feststellen. Die Behinderung ist nicht genetisch bedingt und oft erst Monate oder Jahre nach der Geburt absehbar. In Deutschland leben mehr als 250.000 Menschen damit und die Ärzte gucken immer noch wie Schweine ins Urwerk.

Anfang der Achtziger Jahre rannte meine Mutter mit ihrem dicken Kind, das nicht laufen lernen wollte, aber die ganze Zeit redete, von Spezialist zu Spezialist und die Spezialisten entwickelten sämtlich den Ehrgeiz, dem jeweiligen Vorgänger zu widersprechen:

– „Die wird im Rollstuhl sitzen.“
– „Ach was, das wird sich alles verwachsen, in zehn Jahren sieht
man das gar nicht mehr.“
– „Eigentlich müsste doch eine ganze Körperhälfte betroffen sein.
Entweder beide Beine oder der linke Arm auch.“

Meinen ersten Auftritt hatte ich im Alter von zweieinhalb Jahren. Ich saß auf einem Tisch auf dem Podium eines Vorlesungssaals der Charité und sprach zu den Studenten. Die hörten aber nicht richtig zu, weil der weißhaarige Medizin-Professor neben mir ständig dazwischenredete und außerdem ein Mikrofon hatte, das war unlauterer Wettbewerb.
Jedenfalls hielten die mich alle für was ganz Besonderes und ich hatte nichts dagegen.

Meine Mutter wollte mich irgendwann in den Kindergarten bringen, weil sie sich am Schreibtisch nicht konzentrieren konnte, wenn ich im Nebenzimmer ständig Geschichten erzählte. Das wollten die Kindergärtnerinnen aber nicht, weil denen ein Kind, das nicht laufen konnte, aber ständig redete, auch zu anstrengend war. Dann hätten sie mich ja nicht mal aus dem Zimmer schicken können.
Mit knapp vier Jahren ließ ich mich dann doch dazu herab, die Fortbewegung auf zwei Beinen zu praktizieren (nicht ganz konsequent, für die nächsten Jahre sollte der Schorf an meinen Knien nie ganz abheilen). Aber immerhin: Ich kam in den Kindergarten.
Mit durchschlagendem Erfolg. Nach nur einer Woche hatte ich die pädagogischen Grundprinzipien verinnerlicht und trug sie ins Kinderzimmer zu einem einäugigen Stofftier weiter: „Mein liebes Fräulein Wolf, wenn du jetzt noch mal die Kinder frisst, dann bin ich aber ganz böse mit dir!“
Meine Mutter sagt, sie hatte damals Angst, dass die anderen Kinder fies zu mir sein würden, aber denen war es im Grunde scheißegal und meine Abnormität war auch nur eine von vielen: „Die stottert, der kann nicht richtig gucken und die da darf man nicht schubsen, die fällt sofort um. Außerdem redet die beim Mittagsschlaf die ganze Zeit. Deshalb kommt dann immer die Erzieherin und hält ihr die Hände auf dem Rücken zusammen mit der einen Hand und mit der anderen hält sie ihr die Augen zu.“
Ich fand Kindergarten super. Der Punkt war, dass mir mein Gehfehler selber total egal war: „Lea, dreh‘ den Fuß nach außen!“ mahnte meine Mutter.
„Manno!“ sagte ich. Selbst, als ich nach dem Umzug meiner Eltern in einen Christenkindergarten gesteckt wurde, ließ ich mich nicht auf meinen linken Fuß festnageln: „Ätsch, du humpelst!“ sagte die doofe Sabine und ich konterte: „Ätsch, du weißt nich, wo dein Papa wohnt!“
Eingeschult wurde ich auf der Körperbehindertenschule Dr. Georg Benjamin in Berlin-Lichtenberg. Das war auch super. Wir hatten eine eigene Sporthalle, eine eigene Schwimmhalle und eine eigene Krankenstation mit einer Ärztin, die einen sofort freistellte, wenn man ankam, man habe Kopfschmerzen. Ich bekam ein Fahrrad mit Stützrädern, auf das meine Cousins unglaublich neidisch waren, weil man damit nämlich rückwärts fahren konnte. Außerdem gab es in Sport die Disziplin „Rennrollstuhl fahren“. Das war lustig. Man musste nur aufpassen, weil die Rennrollstühle sehr leicht nach hinten umkippten und man dann wieder zur Schulärztin musste wegen Kopfschmerzen und dann hat die einem gleich freigegeben und die Eltern angerufen, damit sie einen abholen kommen und die Eltern fanden das nicht lustig. Auf dieser Schule wurde mir meine Besonderheit auch endlich offiziell bescheinigt: „Lea konnte ihre Leistungen im zweiten Schulhalbjahr wieder steigern. Sie verfügt über sichere Kenntnisse und ein logisches Denkvermögen. Den Mitschülern gegenüber ist sie hilfsbereit, sollte aber auch deren Meinung anerkennen. Ihr Arbeitstempo sollte Lea steigern. In den Deutsch-Disziplinen zeigt Lea reges Interesse. Sie schreibt kleine Geschichten und versucht sich an Gedichten. Dieses Hobby sollte sie mit Unterstützung des Elternhauses weiterführen. Versetzt nach Klasse 3!“
Mit dreizehn kam ich aufs Gymnasium. Auch dort war ich was ganz besonderes, das fand ich aber ziemlich blöd, diesmal. Empfehlungen wie „Ey, loof ma richtig!“ von irgendwelchen Assis an der Bushaltestelle waren mir noch relativ egal, aber mit anschwellenden Geschlechtsmerkmalen schrumpfte wie bei jedem Teenager auch mein Selbstbewusstsein und das Gefühl einer Fünfzehnjährigen, die sich in ihrem Körper sowieso völlig deplaziert vorkommt und die dann auf der Straße von einem schönen Mann gemustert wird und im Gesicht dieses Mannes Wohlgefallen zu erkennen glaubt, bis der Blick des Mannes nach unten wandert und die Fünfzehnjährige plötzlich überhaupt nicht mehr Frau sondern nur noch Fuß in den Augen des Mannes zu sein glaubt, das Gefühl lässt sich kaum beschreiben.

Tatsache war, dass Brille irgendwie okay war, Zahnspange auch, S-Fehler, zu großer Hintern, zu kleiner Busen, schlecht in Mathe, mies in Sport, Mutter Alkoholikerin, Vater arbeitslos, Take-That und Bayern-München-Fan, mit achtzehn noch Jungfrau. Das ging alles irgendwie. Aber Gehfehler ging nu mal gar nicht, dachte ich. Wenn ich ein Wolfsjunges wäre, hätte meine Mutter mich tot gebissen. Dachte ich. Da hatten wir in Bio gerade Darwin. Nein, die Pubertät ist keine lustige Lebensphase.

Ich fing mit Studieren an und bezog meine erste eigene Wohnung. Meine Nachbarin hieß Michelle und war sehr nett und sehr doof. „Hach, weißte, ich hab über dich nachgedacht“, erklärte sie mir eines Tages. „Hat’s wehgetan?“ fragte ich nicht, sondern sagte: „Aha.“ „Ich hab mir überlegt,“ führte sie aus, „ich hätte ja so gern deine Figur“ (Michelle war etwas gnubbelig) „aber dann hab ich gedacht, wenn ich dann auch deine Behinderung hätte, dann hab ich ja mit meinem Körper noch Mal Glück gehabt!“ Begeistert strahlte sie mich an und ich war zum ersten Mal in meinem Leben sprachlos.

Jetzt bin ich in dem Alter, wo die Leute um einen herum anfangen, Kinder zu kriegen. Letztens rief eine alte Bekannte an: „Mein Sohn hat das gleiche wie du und jeder Arzt sagt was anderes:

– „Der wird im Rollstuhl sitzen.“
– „Ach was, das wird sich alles verwachsen, in zehn Jahren sieht
man das gar nicht mehr.“
– „Eigentlich müsste doch eine ganze Körperhälfte betroffen sein.
Entweder beide Beine oder der linke Arm auch.“
Zu allem Übel hatte die Bekannte auch noch recherchiert und las
mir nun den Wikipedia-Artikel zum Thema vor:

„Wenn ein Kind mit körperlichen Schwierigkeiten in die Regelklasse aufgenommen wird, ist dessen Schulalltag oft von vielerlei Hürden geprägt. Problematisch ist schon die Tatsache, dass von einem Kind mit Behinderung meist das Gleiche erwartet wird wie von Kindern ohne Einschränkungen. Andererseits ist es gerade für Kinder mit einer körperlichen Behinderung sehr wichtig, ihnen nicht in gutgemeinter Hilfsbereitschaft jede Arbeit abzunehmen und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie gesellschaftlich wichtige Arbeit leisten und selbständig für sich sorgen können.“

An der Stelle war die Bekannte in Tränen ausgebrochen. Ich versuchte ihr zu erklären, dass das Lesen von Wikipedia-Artikeln in medizinischen Fragen etwa so ratsam ist wie das Studium von Arzneipackungsbeilagen. Am Ende wunderst du dich, dass der Betreffende überhaupt noch lebt. „Kannst du denn für dich selber sorgen?“ fragte sie mich.
Ich ließ meinen Blick über das Schlachtfeld meiner Wohnung gleiten. Der Müll müffelte, der Kühlschrank gähnte, die Fruchtfliegen feierten über dem Leergut eine Party und auf dem Schreibtisch stapelten sich unbezahlte Rechnungen und abgelaufene Bibliotheksbücher. „Das ist jetzt eine Definitionsfrage,“ sagte ich.

von Lea Streisand

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