„Jetzt stimmt die Mischung!“ – Vom Beginn der Gentrifizierung

Seit 15 Jahren wohne ich hier in der Stuttgarter Straße im nördlichen Neukölln. Obwohl schon immer mit einer deutschen Staatsbürgerschaft versehen, bin ich, wie Viele hier, als Flüchtling gekommen – nicht als politischer oder wirtschaftlicher, sondern als ein Assistenzflüchtling. Ich sitze im Rollstuhl und kann mich nicht bewegen. So brauche ich immer einen, der mich kratzt, wenn‘s juckt, zur Toilette bringt, wenn‘s drückt, mich füttert, wenn mich hungert, mir beim Abhusten hilft, wenn‘s röchelt… Vor meiner Flucht hatte ich im Altenburger Land in Thüringen gewohnt. Das dortige Sozialamt war der Auffassung, die Leute, die mir durch Pflege und Assistenz ein halbwegs selbstbestimmtes Leben ermöglichten, könnten das nebenher und ohne Bezahlung tun. In Berlin hingegen gab es Chancen, dass diese Hilfen finanziert wurden. So geriet ich hierher.
Die Gegend, in der ich eine Wohnung bekam, galt schon längere Zeit als arm und heruntergekommen. Anfang dieses Jahrtausends erlangte der ganze Stadtbezirk Neukölln in Fernsehmagazinen und Journalen wie Spiegel und Focus als die Kommune mit dem höchsten Sozialhaushalt der Republik eine traurige Berühmtheit. In den Kiezen, die sich vom Hermannplatz nach Süden und Osten erstrecken, gab es mehr Menschen, die Sozialhilfe und Arbeitslosengeld bezogen (Leute wie mich), als welche, die für ihren Unterhalt selbst sorgten. Drogenhandel und Kleinkriminalität sollten hier zum Lebensstil gehören. Das Polizeirevier auf der Sonnenallee – so wurde vermeldet – registrierte in seinem Einzugsgebiet täglich einen Mord. Die Schulen hier standen für Dummheit und Verrohung, Bildungsferne und migrantische Sprachlosigkeit. Die Rütlischule wurde bald darauf bundesweit zum Symbol dafür. Neukölln, da war man sich einig, war wie der Wedding ein riesiger Arme-Leute-Staubsauger. Diese Stadtbezirke waren so verranzt – würde hier die Gentrifizierung greifen?
Dieses Schlagwort kam im neuen Jahrtausend vor allem in linken Kreisen in Schwang. Gemeint ist ein Prozess, der damit beginnt, dass sich Studenten und Bohemiens vermehrt in heruntergekommenen Vierteln in Citynähe ansiedeln, weil sie sich die Mieten dort leisten können. Sie nutzen auch leerstehende Gewerberäume für Galerien, Cafés und ähnliche Projekte. Infolgedessen wird das Viertel attraktiver, und auch etwas Wohlhabendere wollen zuziehen. Wohnungen werden saniert. Die Mieten steigen. Je mehr das geschieht, umso mehr gerät die angestammte Bevölkerung unter Druck und weicht in billigere Wohnlagen aus. So können aus Armengettos Reichengettos werden.
Zu Beginn des neuen Jahrtausends hatte dieser Prozess in großen Teilen des Prenzlauer Berges bereits gegriffen. In Friedrichshain und Mitte war er in vollem Gange. Die sozial Schwachen, die in den neuen Schick dort nicht mehr passten und für die die Platte in Marzahn noch zu schade war, langten in Neukölln an.
Das mittlere Drittel der Stuttgarter, in welchem ich Mitte der 90er eine Wohnung bezog, hatte zu dieser Zeit auf seinen vielleicht 300 Metern immerhin noch drei Trödler, einen Supermarkt, einen Kohlenhändler, eine Arztpraxis, eine Praxis für Physiotherapie und ein Bordell mit Barbetrieb zu bieten. Heute gibt es in diesem Abschnitt der Straße nichts mehr außer einem Gebrauchtmöbelhändler im Gebäude des Supermarkts, das zuvor über Jahre leer gestanden hatte. Seinen miserablen Ruf hat das Viertel also noch immer – und das zu Recht.
Der billige Wohnraum aber zieht neuerdings nun auch hier Studenten und junge Kreative an. Zaghaft entstehen einige Cafés und Kunstprojekte. Kreuzkölln, das sich stetig etablierende Szeneviertel, ist weit – 20 Minuten Fußweg. Das Gespenst der Gentrifizierung zieht trotzdem durch die Straßen. Es sind nicht unbedingt der Junkie, die kinderreiche Familie oder das alte türkische Ehepaar, das 30 Jahre bei Siemens gearbeitet hat, die davor warnen, – die kennen solche Worte gar nicht – sondern die, die es, indem sie hierher gezogen sind, erst beschworen haben.
Ich hatte in den anderthalb Jahrzehnten, die ich in diesem Haus lebe, vier Vermieter. Jeder kündigte umfangreiche Sanierungsmaßnahmen an und malte ein hoffnungsfrohes Zukunftsbild: Eigentumswohnungen im Neuköllner Jugendstil mit Außenaufzug aus Glas und Hofcafé. In der Realität geschah nichts. Die Wohnungen waren in keinem guten Zustand. Es gab noch Ofenheizung und den traditionellen Schnitt mit engem Klo und Speisekammer. Die Fenster zum Hof waren undicht.
Leergezogene Wohnungen wurden nicht mehr vermietet. Wenn es länger anhaltende Frostperioden gab, froren dort die Wasserleitungen ein und platzten. Bei Tauwetter strömte dann das Wasser durch die Treppenhäuser und die Decken.
Immer wieder wurden leerstehende Wohnungen aufgebrochen und von Obdachlosen zwischengenutzt. Einmal starb einer von ihnen an einer Überdosis Heroin und lag über die Pfingstfeiertage in der Wohnung hinten rechts im zweiten Stock. Herr Sahin, der alte Mann aus dem Hinterhaus, bemerkte es, weil er die ganze Zeit durchs Fenster den Fernseher laufen sah. Er hatte dem Obdachlosen immer etwas Brot und Obst an die Tür gestellt.
Auch Tanja und ihr Freund, ein Paar Anfang 30, das im fünften Stock wohnte, waren Junkies. Sie redeten mit mir offen darüber und man sah es ihnen auch an. An einem Juniabend stürzte sie vom Balkon und lag tot vor der Tür, die von meinem Wohnzimmer direkt auf die Straße führte. In den Tagen danach legten die Leute Blumen auf dem Gehweg ab und stellten Kerzen auf. Besonders berührten mich drei kleine türkische Mädchen, die ein deutsches Gebet sprachen.
Wenn ich manchmal in der Nacht am Kanal entlang nach Hause fuhr, sah ich an den beiden kleinen Parks am Weigandufer große Mercedes und BMW stehen. Obwohl es schon nach Mitternacht war, standen um diese immer Gruppen von fünf bis zehn Männern und redeten. Herr Sahin half mir bei der Deutung des Phänomens: das seien albanische Heroindealer. Die übergaben hier den Stoff an die Zwischenhändler. Tatsächlich habe ich keine protzigen Karossen mehr entdeckt, seitdem an einem Dezemberabend unser Straßenabschnitt von der Polizei abgeriegelt wurde und sie wie bei einer Jagd mit einer Treiberkette junge Männer einfing.
Die Gartenflächen im Hof waren bis zur Modernisierung ungenutzt. Ein paar Farne und Lilien kämpften sich durch die Brennnesseln. Ansonsten wucherten Holunderbüsche das bisschen Licht, das es im Hof gab, weg. Herr Sahin rodete ein paar Flächen in Handtuchgröße, die zumindest im Frühsommer Sonne hatten, und zog sich Paprika, Zwiebeln und Zucchini. Sogar einen Weinstock pflanzte er.
Er war auch der Meinung, die Dealer würden das Heroin in den leeren Wohnungen in unserem Haus zwischenlagern. Die Drogenfahnder hatten es bei der Razzia nicht durchsucht. Aber er scheint nichts gefunden zu haben. Jedenfalls war er zu arm, um die Zweizimmerwohnung im Hinterhaus behalten zu können, als der vierte Eigentümer, die Neuköllner Wohnungsbaugenossenschaft, schließlich doch die Häuser modernisierte.
Sie beseitigte die Wasserschäden und schliff die Dielenböden. Heizungen wurden eingebaut, die Fassaden gestrichen und im Hof Balkone vor die Wohnungen in den Seitenflügeln gesetzt. Es entstanden freundliche Wohnungen für Singles, Alleinerziehende oder Paare und Familien – bezahlbar auch für Leute mit kleineren Einkommen. Plötzlich waren junge interessante Leute meine Nachbarn: Studenten, Lehrer, Ingenieure, Musiker. Auch die Hauseigentümer auf der anderen Straßenseite ziehen mit und sanieren nach und nach.
Herr Sahin hätte für seine modernisierte Wohnung das Doppelte warm zahlen müssen wie bisher kalt. Der neue Vermieter gab ihm eine kleinere Wohnung zwei Kilometer die Sonnenallee abwärts, die für ihn erschwinglich war. Das erste Mal in seinem Leben hatte er Zentralheizung. Noch ein Jahr in seiner bisherigen Behausung hätte er möglicherweise nicht überlebt. Er hatte extremen Husten und Herzprobleme. Ein Leben lang hat er stark geraucht. Aber der Ofen, der, bevor er überhaupt heizte, drei Stunden lang stark qualmte, so dass er nur mit geöffnetem Fenster betrieben werden konnte, schädigte ihn mit Sicherheit mehr.
So geht es los mit der Gentrifizierung. Schade, dass er nun nicht mehr mein Nachbar ist. Aber ehrlich gesagt: Ich genieße auch, wie sich meine Straße entwickelt. Mit dem Zuzug der neuen etwas vermögenderen Mitbürger beginnt hier überhaupt erst einmal so etwas wie eine Vermischung von Bevölkerungsgruppen und Schichten. Bisher gab es hier nur die Unterschicht. Wenn jetzt Bürgerkinder anlanden, die einen wesentlich weiteren Horizont als die Eingeborenen haben, die sozial engagiert, künstlerisch ambitioniert und anspruchsvoll an ihr Leben sind, dann kann das nur positiv sein.
Noch sieht man deutlich mehr Leute als anderswo auf den Straßen um die Sonnenallee, die obdachlos und suchtkrank anmuten. Auch der kleine Fuhrunternehmer, dessen Frau ihre behinderte Mutter pflegt, und der Bastler im Eckladen, der für 15 Euro Kassettenrecorder aus den 70ern verkauft, sind noch da. Jeden Vormittag geht ein Mann an meinem Fenster vorüber, der etwa 20 kleine Hunde an Leinen mit sich führt. Er ruft sie beim Namen und schimpft fortlaufend mit mindestens einem von ihnen. Die Kinder spielen noch auf der Straße – die deutschen, die türkischen und die arabischen für sich. Manchmal kommt es zu Überschneidungen, meist zu gewalttätigen. Da schreien sich dann die Mütter an – die deutsche brüllt immer am lautesten.
Seit drei Jahren ziehen an warmen Tagen rumänische Roma durch die Straßen und machen Musik. Sie bauen sich wie die Hinterhofmusiker der Zillezeit vor den Fenstern auf und warten auf die Münzen, die ihnen zugeworfen werden. Ihr Repertoire ist dünn: drei Titel Balkanbrass, drei deutsche Schlager oder aktuelle Hits. Jedenfalls finden sie genug Leute, die für sie ihr Geld aus dem Fenster schmeißen, ihnen zulächeln, den Kopf im Takt wiegen oder vielleicht sogar einige Tanzschritte andeuten. Das wäre ihnen vor fünf Jahren ohne Durchmischung nicht passiert. Da hätte kaum einer ihre Performance goutiert.
„Jetzt müsste man diesen Prozess stoppen können. Jetzt stimmt die Mischung. Jetzt ist es gut so.“, sagte mir eine junge Frau, mit der ich im Café an der Wildenbruchbrücke über unser Viertel ins Gespräch kam. Leider scheinen solche Prozesse nicht aufhaltbar zu sein, jedenfalls nicht ohne massives Eingreifen der Politik. Es ist fatal: Ich landete als Assistenzflüchtling hier; und jetzt, wo ich beginne, mich in meinem Kiez wohlzufühlen, muss ich mir Sorgen machen, nicht als Gentrifizierungsvertriebener zu enden.

von Matthias Vernaldi

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