Eine Decke über die Füße legen…

Mondkalb: Was wollten Sie als Kind werden und warum wollten Sie das werden?
Radtke: Lokomotivführer oder Trambahnfahrer. Vielleicht, weil man mobil ist.

Mondkalb: Wie definieren Sie Behinderung?
Radtke: Abweichen von der gewohnten Norm und dadurch häufig Objekt der Stigmatisierung.

Mondkalb: Welche Erfahrungen haben Sie bezüglich Ihrer Behinderung in Ihrer Ausbildung und in Ihren Anfängen als Schauspieler gemacht?
Radtke: Ich kam bis zu meiner Promotion, weil ich mangels Berufsmöglichkeit
immer weiter lernen musste. Als Mensch mit einer Behinderung, der Theater spielen wollte, gab es keine professionelle Ausbildung.

Mondkalb: Sie sind Schauspieler und Autor. Können Sie als Schauspieler etwas ausleben, was Sie als Autor nicht ausleben können und umgekehrt?
Radtke: Das Schauspielen und das Schreiben ergänzen sich ideal. Da man als behinderter Schauspieler nicht genügend Einsatzmöglichkeiten hat, kann man die „Durststrecke“ mit Schreiben ausfüllen. Im Übrigen will ich nicht etwas ausleben, sondern ich möchte dem Zuschauer etwas vermitteln. Das geschieht im Theaterspiel und/oder im Schreiben.

Mondkalb: Was bedeutet Ihr behinderter Körper für Ihre Arbeit
als Schauspieler?
Radtke: Im Theater spielt das Sehen eine große Rolle. Anders als beim Malen oder Komponieren ist die äußere Erscheinung Teil des kreativen Prozesses. Daher muss man zum eigenen Körper Ja sagen, wenn man auf die Bühne geht.

Mondkalb: Haben Sie das Gefühl, dass sie in Ihrer Arbeit von der Öffentlichkeit eher als Schauspieler und Autor wahrgenommen werden oder als behinderter Mensch, der es geschafft hat, seine Behinderung zu überwinden?
Radtke: Das eine ist vom anderen vermutlich nicht zu trennen. Sicher hat sich das Verhältnis im Laufe der Jahre vom reinen „Behinderten“ zum „Künstler mit Behinderung“ verschoben, doch wird Behinderung sicher niemals völlig ausgeklammert werden (was ich im Übrigen nicht schlimm finde, weil ich Behinderung ja bewusst als künstlerische Qualität einbringen will).

Mondkalb: Sie haben die Arbeitsgemeinschaft „Behinderung in den Medien“ gegründet. Hat sich das Bild von Behinderung von der Gründung bis heute in der Medienlandschaft gewandelt? Und wie?
Radtke: Vor 24 Jahren war es fast unvorstellbar, dass Menschen mit einer Behinderung vor der Kamera agierten. Heute ist es zwar noch immer nicht gang und gäbe, aber immer häufiger treffen wir am Bildschirm auf Betroffene, und dies nicht nur in Reportagen (siehe „Marienhof“, „Bobby“ etc.). Auch hätte man vor etlichen Jahren nicht geglaubt, dass Menschen mit einer Behinderung und ihre Organisationen ein akzeptiertes Programm im privaten und öffentlich-rechtlichen Fernsehen gestalten könnten.

Mondkalb: Sind Sie der Meinung, dass sich ein Mensch mit einer Behinderung immer ein bisschen mehr anstrengen muss, ein bisschen besser oder besonderer sein muss, um in einem „nicht behinderten“ Beruf Anerkennung oder Lob zu bekommen?
Oder ist es so, dass man durch die Behinderung generell einen ‚Behindertenbonus’ hat?
Radtke: Beides ist richtig. Um sich durchzusetzen, muss man mehr können und sich stärker anstrengen als so genannte Nichtbehinderte. Andererseits hat man gewisse Vorteile, wenn ein Regisseur die Rolle mit einem behinderten Darsteller besetzen will, weil man nicht ersetzbar ist. Dennoch wiegt dieser zweite Aspekt sicher nicht so
schwer wie der erste.

Mondkalb: Was bedeutet Ihnen Ihre Arbeit?
Radtke: Als ich nach meinem Studium eineinhalb Jahre arbeitslos war, bedeutete mir Arbeit sehr viel. Inzwischen habe ich bewiesen, dass ich es mit jedem Menschen ohne Behinderung aufnehmen kann. Daher spielt Arbeit heute für mich nicht mehr die Rolle, um mich zu beweisen. Doch ist mir wichtig, etwas Sinnvolles zu leisten (was nicht unbedingt mit dem herkömmlichen Begriff der Arbeit gleichzusetzen
ist).

Mondkalb: Welche Ratschläge und Tipps haben Sie im Verlauf Ihrer Karriere bezüglich Ihrer Behinderung erhalten und welche davon würden Sie weitergeben?
Radtke: Ich sollte eine Decke über meine Füße legen, um die Umgebung
nicht zu schockieren. (Diesen Rat werde ich bestimmt nicht an andere weiter
geben !!!) Hingegen kam ein sinnvoller Tipp von einem Pfarrer. Er meinte, jeder Mensch habe Pfunde, mit denen er wuchern müsse. Auch Menschen mit Behinderung haben solche Pfunde, die kein anderer hat. Wenn sie sie einsetzen, helfen sie nicht nur anderen, sondern sie gewinnen auch Selbstbewusstsein.

Veröffentlichungen (Auswahl)
„Ein halbes Leben aus Glas“, München (Autobiographie), 1985
„M – wie Tabori; Erfahrungen eines behinderten Schauspielers“, Zürich 1987, München 1990
„Hermann und Benedikt oder Das Brot teilen“ (Theaterstück), Frankfurt/M. 1990
„Die Stunde der Viper“ (Hörspiel), Frankfurt/M. 1991
„Karriere mit 99 Brüchen“ (Autobiographie), Freiburg 1994
„Der Sinn des Lebens ist gelebt zu werden“ (Aufsätze und Referate), München 2007

Weitere Informationen:
www.peter-radtke.de und
www.abm-medien.de

Marie Gronwald

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