In der Opferecke beantworten wir Fragen, die Sie, verehrte Leserschaft, an die Redaktion stellen. Es sollten Fragen von allgemeinem Interesse sein und sie sollten irgendeinen Bezug zum Thema Behinderung haben.
Warum aber heisst nun diese Rubrik „Opferecke“? Das Wort „Opfer“ hat in letzter Zeit eine ähnliche Karriere wie das Wort „behindert“ gemacht. In den vergangenen Jahren durfte nicht einfach mehr nur von „Behinderten“ geredet werden. Es musste politisch korrekt „behinderte Menschen“ oder gar „Menschen mit Behinderungen“ heissen. Auf dem Schulhof indessen wurde „behindert“ zum beliebten Schimpfwort.
Wenn heute ein Neuköllner Teenager zu seinem Kumpel sagt: „Du blickst doch gar nichts mehr, weil du voll das Opfer bist!“, dann bezieht sich das nicht auf unschuldiges Leiden. Neuköllner Jugendliche und andere junge Menschen der Unterschicht wollen nicht Opfer sein. Deshalb werden sie auch schnell zu Tätern. Als Dealer, Autoknacker und Zuhälter kommen sie dann sehr schnell in den Knast und nie zu einem festen Einkommen – die Opfer. Ebenso möchte auf dem Pausenhof der Rütlischule keiner als behindert gelten. Und trotzdem ist ein Großteil der Schüler als lernbehindert eingestuft.
Wir sind da ganz anders. Wir stehen dazu, behindert zu sein. Mehr noch: wir stehen drauf. (Auch wenn die wenigsten von uns überhaupt stehen können.) Und weil wir behindert sind, sind wir auch Opfer. Logisch. Seit wann sind Behinderte Täter? Doch selbst, wenn Sie nicht behindert sind, verehrte Leserin, verehrter Leser, ist die Opferecke etwas für Sie. Denn wer stellt schon Fragen an eine Zeitungsredaktion? Leute, die es nicht blicken, Opfer eben.
Doch nun zu den ersten Fragen (zu den letzten kommen wir später). Sie wurden an uns nicht nur von Freunden, Bekannten, Nachbarn und anderen Neuköllnern herangetragen, sondern von der breiten Leserschaft des Mondkalbs in Erwartung der ersten Ausgabe. Manche Frage schien dem Fragesteller so peinlich, dass er sich kaum getraute, sie uns als Berufsbehinderten zu unterbreiten.
Wir haben die drei interesantesten für die erste Nummer ausgewählt:
Kann man mit Anus praeter Analverkehr haben?
Gibt es unter Pygmäen Kleinwüchsige?
Warum grüßen sich Rollstuhlfahrer, wenn sie sich auf der Straße begegnen, selbst wenn sie sich nicht kennen?
Die erste Frage ist am einfachsten zu beanworten: Ja, aktiv. Als Täter sozusagen. Passiv – als Opfer eben – ist es medizinlich bedenklich. Zumindest, wenn dafür der künstliche Darmausgang benutzt wird.
Die zweite Frage ließe sich am ausschweifendsten beantworten. Es würde ein seitenlanges Essay über die Ethnisierung von Behinderung. Vielleicht ist das ja ein lohnendes Promotionsthema. Hier in der Opferecke nur ein paar Sätze: Es gibt verschiedene Formen von Kleinwüchsigkeit. Eine der bekanntesten besteht darin, dass die betroffenen Personen nicht größer als einen Meter fünfzig sind – eher deutlich kleiner. Kopf und Rumpf sind oft in derselben Größe wie bei anderen normalwüchsigen Menschen. Beine und Arme sind aber deutlich verkürzt. Eine andere bekannte Art der Kleinwüchsigkeit bringt Miniaturnormalos hervor, d.h. sie sind in üblicher Weise proportioniert, aber signifikant kleiner als der Durchschnitt. Bei den Pygmäen hat sich dieses Merkmal bei allen Stammesangehörigen durchgesetzt. Dabei kann niemand sagen, ob früher diese Gruppe, wie andere Gruppen auch, in der Hauptsache aus normalwüchsigen Individuen bestand und ob sich auf Grund von geografischer Isolation o.ä. der Kleinwuchs verbreitet hat, bis er zum Allgemeinmerkmal wurde, oder ob sich Kleinwüchsige verschiedener Gruppen zum Stamm der Pygmäen zusammengefunden haben bzw. ihnen nichts anderes übrig blieb, als sich zu organisieren, weil sie aus ihren Herkunftstribals ausgeschlossen wurden. Die erste Selbsthilfegruppe der Menschheit sozusagen. Sie wollten keine Opfer sein und wurden Pygmäen.
Auch die Frage der sich grüßenden Rollstuhlfahrer streift die Thematik der Ethnisierung von Behinderung. Fühlen sich Rollstuhlfahrer als ein eigenes Volk? Grüßen sie sich deshalb, wenn sie sich in der Stadt sehen? Indianer machen das ja auch. Immerhin besteht die Gehörlosencommunity darauf, zumindest als eigene Kultur anerkannt zu werden, denn sie haben ja eine eigene Sprache.
Ich glaube trotzdem, dass eine einfachere Erklärung greift. So viele Rollstuhlfahrer gibt es nicht – auch nicht in einer Millionenstadt -, als dass sie sich nicht kennen würden. Zumindest gibt es nicht so viele, die ausreichend mit Assistenz, Hilfsmitteln und Selbstbewusstsein ausgestattet sind, um sich unter Menschen zu begeben. Rollstuhlfahrer, die sich auf der Straße begegnen, sind integrierte behinderte Bürger – und die sind selten. Man kennt sich also oder wird sich demnächst kennenlernen oder müsste sich zumindest kennen. Da grüßt man sich vorsichtshalber.
Noch eine Bemerkung zum Schluss: Wenn Sie, verehrte nichtbehinderte bzw. nicht rollstuhlfahrende Leserin, verehrter nichtbehinderter bzw. nicht rollstuhlfahrender Leser, das Bedürfnis haben, einen Ihnen nicht bekannten Rollstuhlfahrer auf der Straße zu grüßen oder zumindest aufmunternd zuzunicken, haben sie Mut. Tun sie es. Das machen Opfer untereinander so.