Opferecke

Dieses Mal befasst sich die Opferecke mit Fragen,
die sich rund um das Thema gruppieren, ob eine Behinderung
auch Vorteile für die Betroffenen mit sich
bringt.

Sie lauten:
1. Werden Behinderte eigentlich seltener zu Opfern von Überfällen, weil man ja Wehrlose nicht schlagen darf?
2. Darf ein Inhaber einer Sonderparkgenehmigung für Rollstuhlfahrer sich auf einen freien Parkplatz stellen, obwohl der Rollstuhlparkplatz ebenfalls frei ist?
3. Was macht ein Militarist, der auf Grund einer Kriegsverletzung im Rollstuhl sitzt und seine Hilfen von Zivis erhält?

Die erste Frage zielt darauf ab, dass offensichtliche Wehrlosigkeit ein Vorteil sein kann. Behinderung wird immer noch als wehrlos definiert. Es gibt keine Statistik darüber, aber behinderte Bürger scheinen offenbar überdurchschnittlich selten überfallen und beraubt zu werden. Wahrscheinlich gibt es auch unter modernen Straßengangs so etwas wie eine Ganovenehre, zu deren Codex “Wehrlose schlägt man nicht” gehört. Oder liegt es einfach nur daran, dass Behinderte seltener als andere Leute aus dem Haus kommen, also auch nicht beraubt werden können? Die Barrieren im öffentlichen Raum und fehlende Assistenz machen zwar Behinderte zu Ausgrenzungsopfern, verhindern aber gleichzeitig, dass sie zu Kriminalitätsopfern werden. Oder anders herum gesagt: Auch Teilhabe hat ihren Preis. Die Wahrscheinlichkeit, Portemonnaie und Handy loszuwerden, steigt. Übrigens: Ein Rollstuhl kann eine wirksame Waffe in der Selbstverteidigung darstellen, vor allem ein 150 kg schweres Elektromobil. Doch der Vorteil, ausnahmsweise mal kein Opfer zu sein, scheint nicht sonderlich hoch bewertet zu werden. Mit unserer zweiten Frage kommen wir nun aber zu einem Privileg, welches Anlass zu extremen Neid darstellt, also sehr hoch geschätz wird – den für Rollstuhlfahrer reservierten Parkplatz. Den wenigen, die mobil genug sind, am öffentlichen Leben teilzunehmen, wird eine geschützte Parkraumnutzung geboten, was natürlich den Parkplatzmangel für die Allgemeinheit noch verschärft. Da müsste es doch zu den Grundsätzen der Verkehrsethik von Rollstuhlfahrern gehören, dass sie sich nicht auf einen für alle zugänglichen Parkplatz stellen, wenn daneben auch noch ein Rollstuhlparplatz frei ist. Ich tue es trotzdem. Dabei rede ich mir ein, ich würde mich zu eventuell etwas später einen Parkplatz benötigenden Leidensgenossen solidarisch verhalten. Aber eigentlich ist es ein Akt der Teilhabe. „Ich benutze einen Parkplatz wie jeder andere auch!“ Aus demselben Grund sieht man mich mitunter auch anstatt hinter der Tür mit dem Rollstuhlsignet auf der Männertoilette verschwinden. Ich komme so meiner genderpolitischen Normalität etwas näher.

Einer der größten Vorteile ist aber die Tatsache, dass Behinderte als Wehrlose nicht der Wehrpflicht unterliegen. Ihnen bleibt die Erfahrung erspart, in Gruppen fürs gemeinnützige Töten abgerichtet zu werden. Ihr biografischer Erwartungshorizont wird nicht von der Möglichkeit verdunkelt, am Hindukusch oder im Kosovo von einer Granate zerfetzt zu werden. Der Militarist aus unserer Frage musste diesen
Vorteil entbehren und ist nun trotzdem, nein gerade deshalb, behindert. Er ist eine tragische Figur, selbst wenn er seine patriotische gewaltbereite Grundüberzeugung
aufgibt. Soll er sich für die Aufhebung der Wehrpflicht einsetzten, gar zum Pazifisten werden, damit anderen sein Schicksal erspart bleibt? Dann gäbe es ja keine Zivis mehr.

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